Gesetzlos

Schon als kleiner Junge musste ich lernen zu lügen, zu stehlen und mich zu widersetzen. Aufgewachsen bin ich in einem Kinderheim. Da musste ich ständig mein Essen verstecken, um es von den großen Buben nicht wegnehmen zu lassen. Eine Zigarette wurde ständig von einem zum anderen in einer Runde weitergegeben. Versteckt, so dass unsere Betreuer uns nicht sehen konnten. Als wir größer wurden durften wir am Wochenende in die Diskothek gehen, und wie gewünscht um 22:00 wieder zurück sein. Ein paar Mal haben wir uns daran gehalten, bis wir einmal versucht haben, gegen das Gesetz zu arbeiten. Ich muss zugeben ich hatte Angst vor all den Konsequenzen, dennoch genoss ich die Freiheit. Ich habe mich für die Freiheit entschieden, das fühlte sich richtig gut an.

Als ich 18 Jahre alt wurde, musste ich das Haus verlassen. Mit einem Koffer in der Hand verließ ich das Kinderheim, ohne zu wissen wohin ich gehen sollte. Die Schule hatte ich mehrmals abgebrochen und jetzt stand ich da ohne Beruf. Ich nahm meinen Koffer und ging weg von dieser unscheinbaren unschuldigen Welt, in der ich gelernt habe wie ich auf der Welt überleben kann.

Als ich darüber nachgedacht habe wohin ich gehen sollte, sah ich in der Ferne eine Frau. Die Schwester meiner Mutter, also meine Tante. Mit offenen Armen kam sie auf mich zu und umarmte mich, so als wäre ich ihr Kind gewesen. Ein Gefühl, das ich niemals zuvor gespürt habe und welches ich niemals vergessen werde. Ich war glücklich.

Sie nahm mich zu ihr. Zumindest für eine bestimmte Zeit. Bei ihr durfte ich meinen Schulabschluss machen und einen Beruf erlernen. Jetzt war ich wie alle anderen. Meine Tante war meine Familie.

Nach meinem Schulabschluss fand ich sofort eine Arbeit. Ich war stolz auf mich. Jeden Abend bevor ich ins Bett ging, lag im Badezimmer mein Gewand für den nächsten Tag schon vorbereitet. Zähne putzen und pünktlich um 22:30 Uhr schlafen gehen. Früh aufstehen, duschen, Zähne putzen, Deo unter die Achsel. Anzug anziehen, Haus verlassen, ins Auto einsteigen, losfahren. Und während der Fahrt beobachtete ich auf der Straße all die Kinder die in die Schule gingen. Bei der Bushaltestelle standen sie alle da, jeder mit Handy in der Hand. Wie hypnotisiert. Pech gehabt, Bus verpasst.

Menschen auf dem Fahrrad in die Arbeit fahren. Menschen im Stau, Hektik, Wutausbrüche, Hupen, weiter fahren. Nächste Ampel rot, neben mir stand ein violettes Auto. Die Frau war auch komplett in Violett angezogen und hatte volle dicke große Rote Lippen, bestimmt mit Botox gespritzt, das ist mir stark aufgefallen. Was für eine Marionette? … dachte ich mir kurz. Sie hatte bei mir wirklich einen Eindruck hinterlassen. Ein hässliches Bild. Weiterfahren, von Weiten sehe ich wie das Ampellicht langsam aber sicher seine Farben verändert. Es dauert noch viel zu lange bis die Ampel wieder grün ist, dachte ich mir und so gab ich Gas und mit quietschenden Reifen fuhr ich nach links durch bei Rot.

Ob mich jemand gesehen hat? Das wären sicher ein paar Punkte im Führerschein. Sie beobachten uns. Die Polizei und die Gemeinde. Ganz oben auf der Ampel gibt es mittlerweile schon überall Kameras, die in Sekunden genau ein Bild von jedem machen. Im Großstädten, in U-Bahn, Stadions, Banken, Restaurants und öffentlichen Plätzen.

Ein schreckliches Gefühl zu wissen, dass es Menschen gibt, die hinter diesen Kameras stecken, die jede Bewegung beobachten. Ich hatte immer das Gefühl gehabt, dass mir die Freiheit weggenommen wird. Beweismaterialien.

Sie wollen alles über uns wissen. Ob du übers Bankkonto zahlst, Zinsen werden immer pünktlich gebucht. In Einkaufhäusern, hinter Parfümregalen beobachten sie uns durch ein schwarzes undurchsichtiges Glas, welches Parfüm wir ausprobieren und für welches wir uns entscheiden, ob wir Nivea oder Gucci bevorzugen.

Sie wissen alles.

Ich habe es satt, ich will mich nicht mehr an die Regeln halten. Ich will nicht mehr ständig von Angst begleitet werden, ständig beobachtet werden oder etwas Falsches gesagt haben.

Ich habe es wirklich probiert. Mit einer normalen Arbeit. Von früh bis spät. Samstags und sonntags. Und immer auf Rufbereitschaft. Lohn ist da, Hurra! Rechnungen bezahlt, Hurra! Geld zum Leben keines mehr da. Frustriert und stark depressiv höre ich auf, morgens früh aufzustehen und wie alle anderen zur Arbeit zu gehen. Ich melde mich beim AMS. Nebenjobs findet man immer. Reicht mir, um zu überleben.

Nachmittags treffe ich mich mit Kumpels, billigen Wein trinken, rauchen und über andere Menschen blöde Witze machen. Das ist weg von der Realität. Ich bin ein freier Mann. Die ganze Nacht Party und Krach.

Die Nachbarn beschweren sich ständig bei der Polizei. „Ruhezeiten einhalten“ hat mir einer der Polizisten laut im Stiegenhaus gesagt. „Sonst kommen wir wieder und du erhältst eine Strafanzeige wegen Ruhestörung in der Nacht“.

Nach 22 Uhr abends kehrt die Ruhe in der Stadt ein. Weil sich alle an die Regeln halten. Die erste Jalousie runter und dann die zweite. Gute Nacht. Alle schlafen brav. Nur ich nicht. Swinger Clubs und Puffs besuchte ich oft. Ich darf es. Ich bin gesetzlos. Ich habe aufgehört mir Sorgen zu machen, dass mich möglicherweise ein Bekannter sehen kann, wenn ich das Puff verlasse und den Reisverschluss bei meiner Hose zumache.

Die Strafzettel zahle ich auch nicht mehr. Mein Postkasten war immer voll. Mahnung, Abmahnung, Hinweise, Landespolizei, Quelle Raten, Mahnung. Weg damit. Und eines Tages kamen sie um mich zu holen, um meine Schulden beim Land zu begleichen. Ich saß sieben Tage in einem Polizei - Allinklusive - Revier. Essen war gut, ein Einzelzimmer hatte ich auch. Pay TV und Minibar fehlte noch. Sonst war alles ok. Und wenn ich manchmal Lust hatte, half ich in der Küche um meine Zeit zu vertreiben, und ich bekam sogar auch noch Geld dafür. Ein Traum, dachte ich mir. Und verließ nach sieben Tagen das Polizeirevier. Mit genügend Geld in der Tasche.

Nachdem ich herauskam hörte ich, dass die Flüchtlingsbewegung im Anmarsch war und dass sie alle nach Deutschland gehen wollten. Ich wollte nur helfen, ich bin doch ein guter Mensch. So fing ich an die Wünsche der Flüchtlinge zu erfüllen. Alle gaben mir freiwillig ihre Uhren, Goldketten, Ringe, Geld, um sie nach Deutschland zu fahren. Alles was verboten ist, bringt viel Geld mit sich. Weil die Menschen in die Versuchung geraten, und ihren schlecht bezahlten Job verlassen.

Tag für Tag fahre ich hilflose Menschen über die Grenzen. Wenn es keiner sieht, bleibt alles im grünen Bereich.

Mein Leben war nicht immer so, das kennt ihr bereits. Ich war schon von klein auf ein Träumer. Und so möchte ich auch bleiben. Frei von Vorurteilen. Frei zu gehen und zu tun was ich will. Alleine mit meinem Geist. Für immer mit mir vereint.

Schwarz auf Weiß, Buchstabe für Buchstabe, Wort für Wort, eines nach dem anderen, Wörter und Sätze, die für mache Menschen keinen Sinn ergeben. Das gesamte Bundesverfassungsgesetz.

Das ist das geschriebene Gesetz, an das wir uns alle halten müssen. Wenn möglich wie den Koran auswendig lernen. Wie ein vom Gesetz gesteuerter Roboter laufen wir Tag für Tag auf der Straße. Vergiss nicht, wir werden immer beobachtet. Bahnhof, Lift, Landesregierung, Hauskameras an allen Ecken angebracht.

Was wollen die alle von uns? Eines Tages werden sie uns sogar beim Scheißen zuschauen um zu sehen, ob wir illegale Mittel in den kleinen Plastiktaschen ausscheiden.

Unterwegs nach Hause, der Tag war lang, aber viel Geld gemacht. Ich rauche im Auto, ich will meine Zigarette aus dem Fenster werfen, die Zigarette wird vom Wind wieder ins Auto zurückgeschleudert. Wenige Sekunden später riecht es verbrannt, ich gebe ungewollt Gas. Mein Auto stinkt nach Gras. Radar hat mich schon wieder erwischt. Hinter mir ein Streifenwagen, Blaulicht. „Bitte Anhalten, Polizei“- Warnung an der elektronischen Tafel. Stehen bleiben. Ich will nicht stehen bleiben, ich hab nichts Falsches gemacht. Erste Ampel durchfahren, Geschwindigkeit erhöhen, die Polizei noch immer hinter mir, Glück gehabt. Zweite Ampel, bei Rot gefahren, Pech gehabt. Ein LKW hat mich erfasst. Das Auto dreht sich wie Breakdance Karussell im Vergnügungspark. Mein Atem setzt aus. Ich bin noch da, und ab jetzt für immer grenzenlos und frei.