Das Labyrinth der Wahrheit

Ich schaue dich an und würde gerne wissen was du denkst. Versuche aus deinem Gesicht zu lesen das, was du in dir tief verbirgst. Was willst du mir sagen? Sag es mir nur! Du schaust mich an und sagst etwas anderes als das, was du mir eigentlich so sehr sagen willst. Versteckte Wahrheit? Aus Reflex, vorprogrammierter Schutz, dich und mich vor möglichen Konflikten zu schützen.

Ein großes leeres Haus am Rande des Waldes. Die Loreta wohnt hier in diesem Haus allein. Sie braucht keine Uhr. Sobald die Vögel draußen singen, weiß Loreta, dass es Zeit ist, aus ihrem Bett aufzustehen. Die Sonnenstrahlen dringen durchs Fenster. Loreta schaut sich durchs Fenster die Landschaft an und bedankt sich mit lauter Stimme.

 "Danke lieber Gott, dass ich noch einen Tag leben darf".

 Langsam erwacht alles zum Leben. Loretas Körper, schon etwas gebrechlich, setzt sich in Bewegung. Sie nimmt ihre täglichen Medikamente wie immer ein. Wartet einige Minuten, bis die Wirkung eintritt, und dann kann es losgehen. Das Haus ist groß und Loreta verwaltet das Haus allein. Ihr Mann starb vor wenigen Jahren an Krebs. Die Kinder haben das Haus schon längst verlassen und wohnen mehrere Kilometer entfernt. Die Kinder haben eine Familie gegründet und besuchen Loreta, wann immer es die Zeit erlaubt. Der Wald kann ihnen nichts bieten. Große Städte sind gefragt, in denen man sich durch den ständigen Verkehr bewegen kann.

Das Haus allein zu verwalten kostet Loreta viel Energie, aber sie gibt nie auf. Die Tomaten im Garten und die wunderschönen Rosen. Die Wiese und die Bäume rund um das Haus. Hühner, Enten, Katze, Hund, überall im Garten zu sehen. Eine tägliche Aufgabe für Loreta. Der heutige Tag verlief ohne Probleme. Loreta versorgte die Tiere, räumte das Haus auf, kochte wie üblich zu Mittag. Sie war zufrieden.

 Loreta setzt sich, um etwas Luft zu atmen. Trinkt von ihrem Tee, schaut sich kurz um und spürt tief die Traurigkeit und die Einsamkeit in ihrem Haus. >>Keiner mehr da>> dachte sie sich. Manchmal kam ihre Schwester zu Besuch. Jeden Dienstag. Sie unternahmen immer etwas zusammen. Ausflüge, Urlaub am Meer, alte Freunde besuchen. Ja das war die Lebensqualität, die Loreta noch sehr schätzte.

"Hallo Mama, wir kommen dich am Wochenende besuchen und wir hoffen, dir geht es gut". Eine Postkarte wurde per Post gerade zugestellt.  Loreta war außer sich, es war sehr erfreulich, ihre Kinder mal wieder zu sehen. 

Die Vögel singen, die frische Luft, die durch das Fenster hereinkommt, ist auf Loretas Gesicht spürbar. Loreta macht die Augen auf, schaut sich um. Das Morgenlicht strahlt durch das Fenster. Der frische Duft der Blumen... hm, herrlicher Tag, dachte sich Loreta. Ein schöner Tag beginnt mit einem Gebet an Gott.

 Danke lieber Gott, dass ich noch einen Tag leben darf!

 Loreta versuchte aus dem Bett herauszukommen, etwas hielt sie fest. Merkwürdig, dachte sie sich. Als sie probierte sich selbst zu drehen, merkte sie plötzlich, dass nur eine Seite ihres Körpers noch reagierte. Sie spürte ihren Körper nicht mehr. Ihre rechte Hand sah verdreht aus. In einem gegenüberstehenden Spiegel am Kleiderschrank schaute sich Loreta selbst an.

Sie sah, wie hilflos sie war. Das Gesicht war blass und ihr Mundwinkel zeigte nach unten. Der Speichel rann aus ihrem Mund. „Was ist das?“ fragte sie sich. „Ich spüre meinen Körper nicht mehr. Warum kann ich nicht aufstehen, Gott sag mir was los ist“. Vielleicht es ist nur ein Traum, dachte sich Loreta. Sie wollte sofort aufwachen aus diesem Traum. Loreta schloß ihre Augen und wartete einige Sekunden. Sie öffnete ihre Augen wieder und versuchte nochmals, aus dem Bett herauszukommen. Vergeblich. Keine Energie. Niemand in der Nähe. Loreta hatte Angst. Sie versuchte zu schreien, nur die innere Stimme war hörbar. “Wird meine Schwester vielleicht vorbeikommen, um mir zu helfen? ich muss zum Bahnhof, heute kommen meine Kinder“. Aber wie?

Loreta lag dort und konnte sich nicht bewegen. Warten, Stille im Haus. Trotz schwieriger Situation war Loreta optimistisch und versuchte sich selbst zu motivieren.

Es sind mehr als 8 Stunden vergangen und Loreta wartet noch immer, dass jemand vorbeikommt. Auf die Toilette musste Loreta auch schon längst. Aber wie?

Mama, Mama.

Kurz eingenickt und müde vom vielen Warten.

Erneut diese Stimme, sie kam ihr bekannt vor. Loreta öffnete die Augen. Ein junger Mann, leicht gebeugt, stand da. Ihr Sohn schaute sie an. Loreta konnte ihm keine Antwort geben auf seine Fragen. Ihre Augen strahlten Traurigkeit und Unwissenheit aus.

Lorta kam kurz danach ins Krankenhaus. Alles weiß, alles steril, wo bin ich?

Tage vergingen und Loreta machte sich Sorgen um ihren Garten, Haus und Tiere. Der Sohn wusste, dass Loreta jetzt seine volle Unterstützung brauchen wird. Nur wie? Loreta braucht jemanden, der sich um sie kümmert. Für ihn nicht machbar. Die Arbeit und seine Familie waren hunderte von Kilometer entfernt.

Im Krankenhaus wurde er über alles informiert. Über die Rehabilitation, die seine Mutter braucht. Weiter wurde er über die verschiedenen Sozialeinrichtungen informiert, die sich in der Umgebung befinden. " Das Angebot, für eine Wohnung voll möbliert im Alten- und Seniorenheim, steht schon. Es ist das Beste für sie" dachte er sich.

Die Rehabilitation folgte wie geplant. Loreta war außer sich. Sie wollte nur nach Hause.

"Mutter, du gehst zuerst für 3 Wochen zur Rehabilitation, du brauchst das. Danach gehst du auf eine kurze Erholungs-Therapie ins Altenheim. Und dort wird sich entscheiden ob du wieder nach Hause gehen kannst". Alles vorgetäuscht. Retuschierte Wahrheit. Sag es ihr einfach, dass sie nie wieder nach Hause gehen darf.

Und was ist mit dem Besitz, wenn ich fragen darf?... Das Geld, das Haus, die ganzen Verlassenschaften. Verwandte, die nie da waren, die niemals Zeit für sie hatten, sind plötzlich da, wie auf einem Begräbnis. Verlassenschaften in Millionenwert. Alle hinter den geschlossenen Türen. Alles fängt im Krankenhaus an. Die so genannte interdisziplinäre Zusammenarbeit funktioniert gut. Wirtschaft darf nicht stehen bleiben. Rehabilitation, Kontakt Pflegeheim, 24 Stunden Betreuung. Überstellung, Wohnung möbliert und das Licht brennt im Altenheim. Gut aufgeklärt von Notar und Heimleitungen, die ins im Geschäft kommen wollen. Das Angebot von 24 Stunden Betreuung war auch nicht schlecht. Schnell die Preise vergleichen. Unterschrieben. Alles ist da, die ganze Wahrheit, und Loreta weißt nichts davon. Sie glaubt an das Gute. Krankenschwestern, die Pflegehelfer, und alle die sich um sie kümmern. Schließlich wollen ja alle nur, dass es ihr im Grunde gutgeht.

All diese fremde Menschen, Loreta kämpft weiter. Einsamkeit und Trauer überflutet ihr Leben. Das Essen schmeckt nicht gut im Krankenhaus und die Krankenschwestern sind ständig auf der Flucht. Sie kommen wie Geister an ihr vorbei, und so verschwinden sie auch, ohne auf Wiedersehen zu sagen.

Die Sachwalterschaft übernimmt der Sohn. Der Termin beim Notar ist bekannt. Das Haus wird vor der Überstellung ins Pflegeheim an den Sohn überschrieben.

Loreta wurde nach 4 Wochen Rehabilitation ins Pflegeheim gebracht. Seit 9 Wochen hat sie ihr Haus und ihre Tiere nicht gesehen. Keiner hört ihre Schreie. Sie schreit, und schreit, jeder schaut sie an und lächelt ihr nett zu. Sie kann nicht mehr reden. Keine Wunschäußerungen mehr.  Der Rollstuhl ist auch etwas eng, und manchmal musste Loreta für mehrere Stunden dort sitzen und warten. Auf was?

„Es ist Zeit ins Bett zu gehen“, sagte eine Pflegerin flüsternd in Loretas Ohr. Sie nahm den Rollstuhl und fuhr damit ins Residenz Zimmer mit Loreta ein. Etwa zehn Minuten später war Loreta im Bett... es ist 18 Uhr abends. „Ich kann nicht schlafen, ich will doch gar nicht schlafen“. Hier fragt mich keiner.

Alles was ich jemals besaß ist weg, nur ich und meine Erinnerungen sind mir noch geblieben. Lass mich in Würde weiterleben, bis mein Ende kommt. Mach dir keine Sorgen um mich, dass ich es nicht schaffen werde. Mach dir keine Sorgen ob ich Schmerzen habe. Ich habe mein Leben gelebt und habe gelernt, Schmerz zu ertragen. Im Bett liegend, ist es Zeit fürs Gebet.

Den Glauben kann uns niemand wegnehmen. Der Glaube sind wir selbst.

Danke, Gott, das ich noch einen Tag leben darf" genau wie jeden Tag davor.

Loreta starb wenige Monate später im Alter von 83 Jahren. Im Alten- und Seniorenheim.